Theology

Das Atemgebet: beständig beten im Mami-Alltag

Als sie Mutter von kleinen Kindern wurde, funktionierten frühere Gewohnheiten nicht mehr, und sie musste eine neue, alltagstaugliche Gebetsform finden.

Christianity Today October 30, 2024
Illustration by Abigail Erickson / Source Images: Getty, Unsplash

Früher war ich eine „Gebetskriegerin“: Als ich noch Single und ohne Kinder war, habe ich mir gerne und oft Zeit für lange Gebetszeiten genommen. Jeden Morgen schaltete ich Lobpreismusik an, sang und meditierte über Gottes Wort. Dann füllte ich einige Zeit damit, für meine Freunde, Familie, Nachbarn und unsere verlorene Welt zu beten. Ich verbrachte sogar einmal ganz allein drei Tage in einer Gebetsklausur.

Kindertrubel statt Frühgebet

Diese geistlichen Übungen waren mir durch meine Zeit in den koreanischen Kirchen in New York und Maryland, in denen ich aufgewachsen bin, in Fleisch und Blut übergegangen. Tägliche Morgengebetstreffen begannen dort um 5:30 oder 6 Uhr, sodass Glaubende ihren Tag mit einem kurzen Lobpreisgottesdienst beginnen konnten, um danach eine längere Zeit im Gebet zu verbringen, bevor sie sich auf den Weg zur Arbeit machten. Diese Art von Morgengebetstreffen begann 1907 und verbreitete sich rasch in ganz Korea. Sie entzündeten eine Erweckungsbewegung in dem Land und wurden zu einer der wichtigsten geistlichen Übungen für koreanische Christinnen und Christen.

Heute bin ich eine Mutter mit zwei jungen Kindern. Wenn ich mein Kindergartenkind nach seiner „Mami“ schreien höre und dabei zusehe, wie mein Jüngster einen Trotzanfall hat, weiß ich, dass die nahe Zukunft keine Gebetsklausuren für mich bereithält. Wenn es sich für mich wie Luxus anfühlt, ein einziges Mal ohne Unterbrechungen duschen zu können, erscheint es umso unmöglicher, Raum für lange Gebetszeiten zu finden. Wenn die Kinder endlich im Bett sind und ich Gelegenheit habe, Zeit allein mit Gott zu verbringen, bin ich zu erschöpft für lange Gebete. Ich begann, Schuldgefühle zu entwickeln, weil ich keine langen Stunden mit Gott verbringen konnte, wie ich es früher getan hatte, und hatte das Gefühl, dass mein Unterwegssein mit Gott seine Tiefe verlor. Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass ich Gott mehr als je zuvor brauchte, wenn mein Jüngster mal wieder absolutes Chaos beim Essen hinterließ und meine Kinder zankten und sich lauthals ankreischten. Ich sehnte mich danach, bei Gott Geborgenheit zu finden, aber ich rang vergeblich um die Zeit dazu.

An diesem Punkt erinnerte mich Ellen Hsu, meine geistliche Begleiterin, dass ich mich in einer anderen Lebensphase befunden hatte, als ich noch Single war. Sie ermutigte mich dazu, die falschen Schuldgefühle aufzugeben, die aus meinen selbstauferlegten Erwartungen geistlicher Disziplin erwuchsen. Stattdessen solle ich gnädiger mit mir selbst sein – und durch den Tag hindurch Atemgebete praktizieren.

Durch Gebete atmen

Atemgebete sind kurze Gebete, die mit dem Ein- und Ausatmen stattfinden. Ihr Ursprung liegt im „Jesusgebet“ der Orthodoxen Kirche und wurde bereits von ägyptischen Wüstenmönchen im dritten und vierten Jahrhundert praktiziert. Das bekannteste Jesusgebet leitet sich aus Markus 10,47 ab: „Herr Jesus, Sohn Gottes, hab Erbarmen mit mir.“

Im 13. Jahrhundert verband der italienische Mönch Nikephoros der Hesychast diese Gebetsform mit dem Atem. Die Veröffentlichung der Philokalie (1782) – ein Sammelwerk aus dem griechischen Mönchtum – und die Aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers (1870) – eine Geschichte über einen Pilger, der das Jesusgebet praktizierte – trugen dazu bei, diese Übung einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.

Beim Atemgebet beginnen die Betenden damit, ihr Herz und ihre Gedanken auf Gott zu fokussieren. Das Gebet wird dann eingeteilt – in ein paar Worte für das Einatmen und ein paar Worte für das Ausatmen. So würde man zum Beispiel mit „Herr Jesus, Sohn Gottes“ einatmen und mit „hab Erbarmen mit mir“ ausatmen.

Sei es ein Bibelvers oder ein theologischer Zweizeiler: Atemgebete sind bewusst kurz gehalten. Dadurch werden sie vielfältig nutzbar, sodass man sie überall und während aller möglichen Tätigkeiten beten kann. Ellen erklärte mir, dass das Atemgebet mir dabei helfen könnte, über den Tag hinweg meine Aufmerksamkeit auf Gott zu lenken, während ich mit meinen alltäglichen Pflichten beschäftigt war.

Aus Ehrfurcht vor Gott förmlich beten

Obwohl das Atemgebet sehr praktisch ist, fand ich nicht direkt Zugang dazu. Waren diese kurzen Gebete, die ich beim Kochen oder Umherlaufen sprechen konnte, gut genug für Gott? Als amerikanische Koreanerin, die als Kind in die USA immigriert und dann dort aufgewachsen war, hatte ich die Werte der koreanischen Kirche verinnerlicht.

Koreaner haben eine Kultur mit hoher Machtdistanz. Anhänger fügen und unterwerfen sich Autorität. Ich betrachtete meinen Pastor oder Leiter nicht als Freunde. Ich konnte sie nicht beim Vornamen nennen; ich musste sie förmlich ansprechen und ihnen viel Respekt entgegenbringen.

Wenn wir uns Gott nähern, ist diese große Machtdistanz noch höher. Die koreanischen Kirchen, die ich besuchte, betonten die Notwendigkeit von Ehrfurcht vor Gott, und ich betrachtete Gott hauptsächlich als groß und mächtig.

Ich hörte Geschichten darüber, wie Kirchenleiter sogar zuhause in ihrer besten Kleidung zu Gott beten und vor ihm niederknien. Auch meine Eltern beteten in ihrem Zimmer kniend. Aus diesen Vorbildern zog ich für mich den Schluss, dass eine gewisse Förmlichkeit nicht fehlen darf, wenn ich mich an den Herrn wende.

Jesus als Freund ansehen

Dieses Gebetsverständnis bekam erste Risse, als ich mein Hochschulstudium begann. Als ich eine Weiße christliche Freundin besuchte, sah ich erstaunt dabei zu, wie sie laut betete, während sie sich schminkte. Ich konnte es nicht fassen, dass jemand es wagte, auf diese Weise mit Gott zu sprechen. In der Kultur der westlichen Welt ist eine geringe Machtdistanz prägend, und das wirkt sich offenbar auch auf die Art aus, wie man Jesus begegnet. Jesus wird eher als Freund statt als allmächtiger, ehrfurchtgebietender Gott angesehen. Die beiden Kulturen konzentrieren sich auf verschiedene Aspekte von Jesus.

Als Koreanerin fiel es mir schwer, Gott als Freund zu begegnen. Aber je mehr ich in der Bibel las und über Anbetung lernte, desto mehr verstand ich, dass Gott nahbar ist. Mein Professor für Gottesdienstlehre, Andrew Hill, brachte mir bei, dass die hebräischen Wörter nagasch und qarab, die in der Bibel im Zusammenhang mit Opfer und Gottesdienst oft als „darbringen“ übersetzt werden, wörtlich „sich nähern“ bedeuten. Sich Gott zu nähern gehört also zu unserem Glaubensleben und unserer Anbetungskultur als Christen.           

Das steht im Gegensatz zu meiner koreanischen Kultur wie auch zu der Kultur Malaysias, wo ich aktuell wohne. Aber der König der Könige und Herr der Herren möchte, dass wir als Freunde zu ihm kommen.

Und wie oft möchte der Höchste, dass wir zu ihm kommen? Ohne Unterlass.  In 1. Thessalonicher 5,17 werden wir dazu aufgefordert, „ohne Unterlass“ (Lutherbibel) zu beten. Dies wird allerdings als rhetorische Überhöhung zu verstehen sein (so Gene Green in seinem Thessalonicherkommentar) – etwa so wie die Worte von Jesus an seine Jünger in Lukas 18,1 („Er sagte ihnen …, dass man allezeit beten und nicht nachlassen sollte“). Diese Aufforderung sollte nicht wörtlich verstanden werden in dem Sinne, dass man nichts anderes mehr tun soll als zu beten. Wir sind vielmehr aufgerufen, uns Gott zu nähern und im Laufe des Tages oft mit ihm zu sprechen. Gebet sollte weniger ein punktuelles Ereignis als ein ständiger Begleiter im Alltag sein. Wenn Gebet einen regelmäßigen Rhythmus in einem Leben bildet, wird es sich anfühlen, als würdet man immerzu beten.

Im Alltag ohne Unterlass beten

Atemgebete sind eine hervorragende geistliche Übung, die es uns ermöglicht, oft und durchgehend zu beten. Wenn ich am Kochen bin und beten möchte, muss ich nicht in mein Schlafzimmer gehen, niederknien und ein Gebet an Gott richten. Ich kann mitten in der Küche einatmen und sagen „Herr Jesus Christus“, um dann mit „gib mir Kraft für den heutigen Tag“ auszuatmen.

Wenn mein Kind sich während eines Trotzanfalls auf den Boden wirft und ich all meine Kraft darauf verwende, um nicht meine Geduld zu verlieren, kann ich mich Jesus in genau diesem Moment nähern. Einatmen: „Herr Jesus.“ Ausatmen: „Gib mir Geduld und Verständnis.“ Selbst bei ganz profanen Dingen wie dem Wocheneinkauf kann ich einatmen mit „Jesus“, und ausatmen mit „lass mich wissen, dass du bei mir bist.“

Diese kurzen Atemgebete durch den Tag hindurch summieren sich. Sie werden zu geistlichen Übungen, die uns dabei helfen, ein gesundes geistliches Leben zu entwickeln, in ähnlicher Weise, wie man seinen Körper gesund hält: Studien zeigen, dass eine 30-minütige Trainingseinheit, die in kleinere Abschnitte aufgeteilt und über den Tag verteilt wird, den gleichen gesundheitlichen Effekt hat wie eine halbe Stunde Training am Stück.

So auch hier: Ich habe festgestellt, dass der geistliche Nutzen derselbe ist, ob ich nun 30 Minuten am Stück bete oder 180 Zehn-Sekunden-Atemgebete über den Tag verteilt spreche (und das ist doch dann Beten ohne Unterlass, oder?). Sowohl morgendliche Gebetsgottesdienste wie auch Atemgebete über den Tag hinweg sind Möglichkeiten, um Gottes Nähe zu suchen.

In meiner derzeitigen Lebensphase sind Atemgebete das, was ich Gott darbringe. Vielleicht kann ich auch jetzt noch eine „Gebetskämpferin“ sein wie früher, doch meine Gebetszeiten sehen nun ganz anders aus. Wenn mir heutzutage jemand ein Gebetsanliegen bringt oder ich von katastrophalen Ereignissen in der Welt höre, spreche ich immer wieder zwischendurch viele kurze Atemgebete dafür.

Atemgebete haben mir dabei geholfen zu verstehen, dass ich überall und jederzeit in Gottes Gegenwart treten kann. Ich kann Gott durch den Tag hindurch um Kraft und Weisheit bitten. Ich kann ihn ebenso durch den Tag hindurch anbeten und ihn loben. Je häufiger ich Atemgebete spreche, desto präsenter wird mir Gottes Allgegenwart. Jetzt kann ich sehen, dass Gott gemeinsam mit mir auf dieser wundervollen Reise des Mutterseins mit all ihren Herausforderungen unterwegs ist – und es immer war.

Und so atme ich ein: „Jesus, mein Gott“, und atme aus: „Danke, dass du ein Freund bist, der immer bei mir ist.“

Esther Shin Chuang hat in Gottesdienststudien promoviert und ist preisgekrönte Konzertpianistin, Lobpreisleiterin und internationale Ausbilderin für Lobpreis. Derzeit ist sie Dozentin am Malaysia Baptist Theological Seminary in Penang, Malaysia.

Deutsch von Lyria Rieß.

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